Wolfgang Hadamitzky


Japanbezogene Lehrmaterialien, Wörterbücher und Bibliografien



Sprachlexikon: Radikal


Definition

Als Radikal (japan.: 部首 bushu) bezeichnet man Zeichen und Zeichenbestandteile, die als Ordnungselement für Kanji in Zeichenwörterbüchern und Indizes fungieren – vergleichbar den 26 Anfangsbuchstaben in alfabetischen Wörterbüchern. Allerdings ist ihre Zahl ungleich größer: in traditionellen japanischen Wörterbüchern meistens 214 oder mehr.


Bedeutung

Alle Radikale haben eine eigene Bedeutung. Bei Radikalen, die als eigenständige Zeichen vorkommen, ergibt sich die Bedeutung aus der On-Lesung des Zeichens, bei den übrigen Radikalen aus dem überkommenen Gebrauch.

Von den Radikalen des 79-Radikale-Systems gehören 49 zu den 1.945 Jōyō-Kanji. Das Radikal 日 (Sonne) ist sogar das am häufigsten vorkommende Kanji überhaupt. Die Tafeln „Die 214 Radikale und ihre Bedeutung“ und „Die 79 Radikale und ihre Bedeutung“ (beide in Vorbereitung) geben einen Überblick über die Bedeutungen der historischen 214 bzw. der 79 wichtigsten Radikale.


Funktion

Die Funktion des Radikals entspricht etwa der des Anfangsbuchstabens eines Wortes in einem alfabetischen Wörterbuch: Entsprechend der Anordnung aller mit A beginnenden Wörter unter dem Buchstaben A in einem alfabetischen Wörterbuch sind in einem Zeichenwörterbuch z.B. unter dem Radikal 日 (Sonne) alle Zeichen aufgeführt, die 日 als Radikal enthalten. So finden sich unter 日 folgende (und viele andere) Zeichen: 日、早、百、旬、旭、明、的、者、時、昼. Wie in diesem Beispiel erfolgt die weitere Anordnung der Zeichen mit gleichem Radikal nach ansteigender Reststrichzahl (Strichzahl des Zeichens abzüglich Strichzahl des Radikals).


Position

Wie die zehn Kanji im vorangehenden Abschnitt „Funktion“ zeigen, kann das Radikal innerhalb eines Zeichens in unterschiedlichen Positionen vorkommen. Enthält ein Zeichen zwei oder mehr Bestandteile aus der Radikaltafel, entscheidet in der Regel die Position darüber, welcher dieser Bestandteile Radikal ist. Dabei hat z.B. die Linksposition Vorrang vor der Rechtsposition.


Anzahl

Die Anzahl der Radikale schwankt in modernen Zeichenwörterbüchern zwischen 79 und ca. 240. Grundlage für die Auswahl sind in den meisten Werken die 214 Radikale aus dem 1716 in China erschienenen Zeichenwörterbuch 康熙字典 Kangxi zidian, japan. Kōki jiten. Die beiden im Handel erhältlichen japanisch-deutschen Zeichenwörterbücher (und einige japanisch-englische) ordnen nach 79 Radikalen. Diese 79 Radikale stellen – mit einer Ausnahme – eine Untermenge der 214 historischen Radikale dar.

Zusammen mit den im jeweiligen Wörterbuch aufgeführten Varianten beträgt die Zahl der Radikale im 214-Radikale-System ca. 400, im 79-Radikale-System 136.


Standardform und Varianten

Das einzelne Radikal kann, abhängig von seiner Position innerhalb eines Zeichens, unterschiedliche Formen annehmen, die seine Identifikation erschweren: Abgesehen von der Größe können sich Proportionen, Strichverläufe und das Aussehen insgesamt ändern. Beispiele: Das Radikal für Mensch hat allein stehend, aber auch in vielen Kanji die Form 人 , als linker Bestandteil eines Zeichens hingegen die Form 亻; beim Radikal für Wasser sind die Unterschiede zwischen allein stehendem Zeichen 水 und linkem Zeichenbestandteil 氵besonders groß, sogar die Strichzahl ist unterschiedlich (4 bzw. 3 Striche). Als Standardform eines Radikals erscheint in den Radikaltafeln der Wörterbücher entweder diejenige Form, die es als eigenständiges Zeichen hat, oder die am häufigsten vorkommende Form. Die von der Standardform abweichenden Radikalformen nennt man Varianten.


Anordnung

Angeordnet sind die Radikale traditionell nach ansteigender Strichzahl, bei gleicher Strichzahl wie im Kangxi zidian. Da es beim traditionellen System keine erkennbare Ordnung der Zeichen mit gleicher Strichzahl gibt, weichen insbesondere chinesische und die mit 79 Radikalen arbeitenden Wörterbücher von dieser Ordnung auf der zweiten Ebene ab und ordnen systematisch, um ein schnelleres Auffinden der Radikale zu ermöglichen. So erfolgt die weitere Untergliederung im 79er-System nach der am häufigsten vorkommenden Position der Radikale, in der Reihenfolge links, rechts, oben, unten, Umschließung; Radikale mit gleicher Position sind nach Häufigkeit geordnet.


Radikaltafeln

Eine Übersicht über die in einem Wörterbuch verwendeten Radikale und ihre Varianten findet man in der Regel auf der Innenseite des vorderen oder hinteren Umschlags in Form einer Radikaltafel. Diese hat zugleich die Funktion eines Index: Zu jedem Radikal ist jeweils diejenige Stelle im Wörterbuch angegeben, an der die Einträge aller Zeichen beginnen, die unter dem betreffenden Radikal angeordnet sind.

Auf der Seite Radikaltafeln finden Sie typische Tafeln aus Wörterbüchern mit 214 und 79 Radikalen. Sie geben Auskunft über die verwendeten Radikale und deren Anordnung.


Radikalbestimmung

Die meisten Zeichen enthalten zwei oder mehr Bestandteile, die in der Radikaltafel vorkommen und deshalb theoretisch Radikal sein können. Aus Platzgründen ordnen Zeichenwörterbücher jedes Zeichen jedoch nur unter einem Bestandteil. Bei traditionellen Wörterbüchern ist durch eine lange Tradition festgelegt, welcher Zeichenbestandteil Radikal wird, bei modernen Wörterbüchern durch klare Regeln.

Die traditionellen Wörterbücher ordnen die Zeichen unter dem gleichen Radikal wie das Kangxi zidian aus dem Jahre 1716. Das führt für den Benutzer zu zwei erheblichen Problemen: Erstens bestimmt das Kangxi zidian seine 214 Radikale nach nur schwer nachvollziehbaren Kriterien wie Etymologie usw., die auch in den neuesten Wörterbüchern mit dieser Anordnung nicht erklärt werden; und zweitens bietet es keine Lösung für die vielen heute gebräuchlichen vereinfachten Zeichen, in denen das Radikal nicht mehr vorkommt. Letzteres hat zur Folge, dass etliche Zeichen je nach Wörterbuch unter verschiedenen Radikalen angeordnet sind, ohne dass die Regeln für die neue Anordnung erklärt werden.

Dagegen bieten Wörterbücher für Ausländer seit Beginn des 20. Jahrhunderts klare Regelwerke für die Bestimmung des Radikals. Zu nennen wären hier vor allem die japanisch-englischen Zeichenwörterbücher von Rose-Innes (1924) und Nelson (1962). Seit der Umstellung des Nelsonschen Systems 1997 auf das traditionelle 214er-System sind die nach 79 Radikalen geordneten japanisch-deutschen und japanisch-englischen Wörterbücher (erstes Erscheinen 1989) die einzigen auf dem Markt, bei denen es klare Regeln zur Bestimmung des Radikals gibt. Danach entscheidet die Position der Zeichenbestandteile darüber, welcher davon Radikal ist.


Radikal-Systeme

Radikal-Systeme sind lexikografische Ordnungssysteme, die zum raschen Auffinden von Kanji und Kanji-Komposita per Radikal in Zeichenwörterbüchern dienen. Sie bestehen im Wesentlichen aus zwei Komponenten: einer Liste der Radikale (Radikaltafeln) und den Regeln zur Bestimmung des Radikals. Ausführlichere Informationen zu diesem Thema enthält der in Vorbereitung befindliche Artikel „Radikal-Systeme“.


Historisches

Schon das älteste vollständig überlieferte chinesische Wörterbuch, das im Jahr 121 erschienene 説文解字 (Shuowen jiezi, japan. Setsumon kaiji), ordnete die darin enthaltenen knapp 10.000 Kanji nach 540 部首 (Radikalen).


Weiterführende Literatur

W. Hadamitzky: Langenscheidts Handbuch und Lexikon der japanischen Schrift. Kanji und Kana 1. 1995. S. 44–51: „Die 214 traditionellen Radikale und ihre Bedeutung“, u.a.

W. Hadamitzky: Radikalbasierte Suchsysteme für Wörterbücher und Datenbanken. 2001.
Eine ausführliche Darstellung zur Geschichte der Radikalsysteme.

W. Hadamitzky: Auszüge aus dem Japanisch-deutschen Zeichenwörterbuch (2005; 103 S., 7,6 MB).
Mit ausführlicher Anleitung zur praktischen Anwendung des 79er-Radikalsystems.

W. Hadamitzky: 漢字 nachlagen leicht gemacht! (2010; 5 S.)
Anleitung zur praktischen Anwendung des 79er-Radikalsystems.





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