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Kanbun 漢文, wörtlich „Han-Text/Han-Schrifttum“, bezeichnet die klassische chinesische Schriftsprache. Aufgrund des starken geistig-kulturellen Einflusses aus China und eines noch fehlenden eigenen Schriftsystems konnte sie sich ab dem 6. Jahrhundert in Japan als erste schriftliche Ausdrucksform etablieren, auch wenn Kanbun außerhalb Chinas de facto eine Fremdsprache war und japanisches Gedankengut sich damit nur bedingt wiedergeben ließ.[1] Es fehlten z.B. Schriftzeichen für Eigennamen oder auch für Affixe und Flexionsendungen, die das Japanische als agglutinierende Sprache zwar benötigt, die dem Chinesischen als isolierender Sprache, bei der die Wortform unverändert bleibt, aber fremd sind, und für die es folglich auch keine schriftlichen Ausdrucksmittel gibt. Außerdem folgt das Chinesische anderen syntaktischen Regeln als das Japanische. Der Umgang mit Kanbun-Texten bedeutet für Japaner also grundsätzlich eine Übersetzungsleistung zwischen Chinesisch und Japanisch. Trotzdem wurden v.a. Schriften aus den Bereichen Politik, Recht, Verwaltungswesen, Wissenschaft und Religion bis in die Neuzeit hinein bevorzugt in Kanbun verfasst – es galt gewissermaßen wie Latein in Europa als herausgehobene Sprachform der Gebildeten und sozialen Oberschicht –, und so entstanden im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Formen des Kanbun. Abgesehen von Modifikationen infolge der normalen Sprachentwicklung hoben sich diese Kanbun-Formen v.a. durch eine verschieden starke Vermischung des eigentlichen Chinesisch mit der einheimischen, d.h. japanischen Lexik und Grammatik von einander ab. Darüber hinaus komplettierte man sie im Laufe der Zeit mit diversen Systemen so genannter Lesehilfen, bei denen kleine Hilfszeichen (Punktierungen, Zahlen, Schriftzeichen, Kana) in einen Kanbun-Text eingefügt wurden. Sie ergänzten einerseits fehlende grammatische Formen des Japanischen wie Partikel und Flexionsendungen, andererseits gaben sie die Lesereihenfolge der einzelnen Satzbestandteile vor und erleichterten damit das Übertragen in ein korrektes Japanisch.
Zu den ersten Lesehilfen gehörten die Ka’eriten (返点, „Umdrehungspunkte“), das waren einfachste Umstellungszeichen für die Wortfolge, sowie die so genannten (W)okoto-ten (ヲコト点).[2] Bei diesem System wurden hauptsächlich die Symbole „–“, „丨“, „•“ und „└“ in bestimmter Weise um die Schriftzeichen herum oder zwischen ihnen angeordnet. Je nach Position stellten sie dann eine bestimmte japanische Silbe dar, vorrangig grammatische Partikel. [s. Beispiel für (W)okoto-ten]
Zu den frühen Lesehilfen zählen des Weiteren die Man’yōgana (万葉仮名). Das waren chinesische Schriftzeichen, die ausschließlich lautwertig zur Darstellung japanischer Sprachelemente, z.B. Eigennamen, benutzt wurden. Die eigentliche Zeichenbedeutung blieb unberücksichtigt. [s. Beispiel für Man’yōgana]
Problematisch bei den Man’yōgana – wie auch bei den (W)okoto-ten – war die teilweise erhebliche Zahl gleichzeitig bestehender Systeme, was ihre Handhabung nicht gerade leicht machte. Denn es gab immer eine ganze Reihe von chinesischen Schriftzeichen, deren Lesung/Lautung sich zur Darstellung einer bestimmten japanischen Silbe eignete, die also als Man’yōgana für diese Silbe genutzt werden konnten, und man bediente sich dieser Vielfalt auch. So sind für das japanische Kami (Gottheit) u.a. folgende Schreibweisen belegt: 可未, 可尾, 伽未 (Lesung der ersten Schriftzeichen jeweils ka, der zweiten Schriftzeichen jeweils mi). Da die Man’yōgana vielfach nicht durch eine kleinere Schreibweise oder ähnliches besonders hervorgehoben wurden, ist es – zumindest aus heutiger Sicht – oft nicht einfach, aus einem Text die Man’yōgana herauszufiltern, also zu erkennen, welche Schriftzeichen rein lautwertig und welche bedeutungswertig benutzt wurden. Ohne eine solche Sondierung können Texte mit Man’yōgana aber unmöglich korrekt verstanden werden, denn jeder Versuch, ein ausschließlich lautwertig benutztes Zeichen bedeutungswertig zu entschlüsseln, muss in die Irre führen. Wenn man beispielsweise die o.g. Schreibung 可尾 für Kami bedeutungswertig übersetzen wollte, ergäbe sich u.U. so etwas wie „den Schwanz/den Anfang/das Ende (尾) gut heißen/billigen/möglich machen (可)“, was mit der intendierten Bedeutung „Gottheit“ herzlich wenig zu tun hätte und katastrophale Folgen für das Textverständnis haben müsste.
Nach der Entwicklung der eindeutigen und leicht verständlichen Kana (9. Jahrhundert) kamen die komplizierten (W)okoto-ten und Man’yōgana schrittweise außer Gebrauch. Einem ausgefeilten System zur Umstellung der Satzgliedreihenfolge sowie zur Ergänzung von japanischen Partikeln, Flexionsformen u.ä., bezeichnet als Ka’eriten und Okurigana und bestehend aus Zahlenhilfen, Kanji und Kana, begegnen wir jedoch bis zuletzt, das heißt bis ins 19./20. Jahrhundert. Diese Lesehilfen bilden ein ganz wesentliches Instrument zur Entschlüsselung von Kanbun-Texten und basieren auf einer logisch aufgebauten und recht leicht erlernbaren Struktur.[3]
Alles in allem gab es also keineswegs das Kanbun schlechthin, sondern differierende Formen. Zunächst das reine Kanbun, das reine klassische Chinesisch, welches keine japanischen Elemente und keinerlei Lesehilfen enthielt (so genannte „weiße Texte“, Hakubun 白文) [s. Beispiel für Hakubun]. Daneben verschiedene Formen von japanisiertem Kanbun mit japanischen Komponenten und mehr oder weniger ausführlichen Lesehilfen (so genannte Kuntenbun 訓点文, „Lesehilfen-Texte“, „Texte [bun] mit Anweisungszeichen [kunten]“), für die es unterschiedliche Benennungen gibt: im Deutschen „Sino-Japanisch“, im Japanischen „Nihon kanbun“ („japanisches Chinesisch“, 日本漢文), „Waka kanbun“ („japanisiertes Chinesisch“, 和化漢文), „Hentai kanbun“ („abgewandeltes Chinesisch“, 変体漢文) [s. Beispiel Kuntenbun]. Obwohl das japanisierte Kanbun dem japanischen Leser sicherlich leichter zugänglich war, verdrängte es das reine Kanbun nie, sondern ergänzte es nur, und es entstanden immer sowohl Texte in reinem Kanbun als auch in japanisiertem Kanbun [s. Satzbeispiel für drei Stufen des Kanbun].
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Anmerkungen
1. Es geht in diesem Beitrag ausschließlich um Kanbun in Japan. Auf andere Kanbun-Formen in anderen Einflussgebieten des chinesischen Reiches, z.B. Korea oder Vietnam, wird nicht eingegangen, auch wenn sie im Rahmen der regionalen Sprachgeschichte teilweise eine ähnliche Bedeutung erlangten wie das klassische Chinesisch in Japan.
2. Die im Namen des Systems verwendete Silbe „wo“ existiert heute nicht mehr, sie reduzierte sich im Laufe der Zeit auf die Silbe „o“. Zur Unterscheidung zwischen diesen beiden Silbenformen wird bei der historischen Silbe „wo“ das weggefallene „w“ im allgemeinen in Klammern mit angegeben.
3. An deutschsprachigen Kanbun-Lehrwerken liegen vor Kluge, Inge-Lore: Kanbun – ein Lehr- und Übungsbuch, Frankfurt/M.: Lang, 1997 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 27, Asiatische und Afrikanische Studien, Bd. 62) sowie Brochlos, Astrid: Kanbun – Grundlagen der klassischen sinojapanischen Schriftsprache, Wiesbaden: Harrassowitz, 2004 (Asien- und Afrika-Studien der Humboldt-Universität zu Berlin, Bd. 16).
September 2005, Astrid Brochlos
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